Geistlicher Impuls
Nähe und Distanz…
Das Kind spielt völlig versunken in seinem Zimmer. Der Holzklotz wird eine kleine Planierraupe. Die hat es vor ein paar Tagen beim Spaziergang mit dem Vater aus dem Buggy heraus bestaunt. Gelbe Legosteine werden zum Sand, den die Raupe in immer neue Formationen schiebt. Das könnte stundenlang so weiter gehen.Doch plötzlich stockt das Spiel. Die Ohren werden gespitzt. Denn das Hintergrundgeräusch, das das Spiel die ganze Zeit begleitet hat, ist verstummt. Das Klappern der Töpfe, die Bewegungen in der Küche, das Geräusch, das beim Schneiden von Gemüse und beim Kochen von Wasser entsteht... Plötzlich ist es ganz still geworden. Das kann doch nicht sein!
Zögerlich ruft das Kind: „Mama!“ – Es lauscht in die Stille. Nichts. Gleich noch einmal, und dieses Mal etwas lauter: „Mama!!!“ – Wieder lauschen – wieder nur diese schon unheimlichere Stille. Das kann doch nicht sein. Wo ist sie bloß geblieben? Sollte sie es wirklich allein gelassen haben? Das macht sie doch nie. Da hilft nur noch mehr Lautstärke und Intensität: „MAMA!!!!!!!“ – Lauschen – dann die Erlösung: „Alles gut, mein Schatz, ich bin im Wohnzimmer!“
Dieses Bild hatte ich vor Augen, als eine Kollegin bei einer Fortbildung uns Teilnehmerinnen und Teilnehmern versuchte, den Kyrieruf im Gottesdienst näher zu bringen. Warum rufen wir drei Mal? Dafür gibt es sicher sehr schlaue Antworten, aber dieses Bild hat mich seither nicht losgelassen. Wir sollten uns bei der Fortbildung vorstellen, wie ein Kind seinen (Spiel-)Alltag unterbricht und nach einem Elternteil oder einer anderen Vertrauensperson ruft. In meinem Fall war das oft meine Mutter, aber das kann für jeden und jede anders sein. Das Kind ruft, um sich der Gegenwart der erwachsenen Person zu vergewissern. Mit diesem Bild frage ich seither zu Beginn eines Gottesdienstes: „Bist Du da, Gott?“ Angesichts des Weltgeschehens und manchmal auch meines Alltags durchaus eine berechtigte Frage. Gott, ich spüre dich gerade nicht. Ich fühle mich so verlassen und einsam. Das kann doch nicht dein Wille sein. Wie kannst Du das zulassen?
Was auch immer mich vor Beginn des Gottesdienstes bewegt, ich lege es in diesen Ruf: Kyrie eleison – Herr, erbarme dich. Vertrauensvoll, manchmal auch schon etwas verzweifelt wie ein Kind, rufe ich zu Gott: Bist du da? Hältst du das mit mir aus? Trägst du mich auch durch dieses dunkle Tal? Oft brauche ich gar keine direkte Antwort. Ich spüre seine Gegenwart, so wie das Kind über die Geräusche aus dem unteren Stockwerk weiß, dass die Mama da ist. Doch manchmal muss ich besonders die Ohren spitzen, sage mir: „Du weißt doch, dass er da ist“. Schließlich ist die Bibel voll von Geschichten seiner Nähe und Zuneigung.
Aber sie kennt auch Momente der gefühlten Gottesferne und Einsamkeit, für mich auf die Spitze getrieben in Jesu Worten am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
So wie wir Menschen nicht übereinander verfügen können, so können wir auch nicht über Gott verfügen. Ich kann Gott nicht zur Nähe zwingen, nach dem Motto, „wenn ich dich nicht immer spüre und mir deiner Nähe gewiss bin, dann glaube ich auch nicht mehr an dich!“ Manche scheinen das zu wollen, aber so funktionieren für mich liebevolle und echte Beziehungen nicht. Sie sind ein Wechselspiel von Nähe und Distanz. Denn nur so ist genügend Platz zur Entwicklung und zum Wachsen. Das müssen wir lernen, als Kind im Verhältnis zu unseren Bezugspersonen und als Glaubende im Bezug auf Gott.
„Bin ich nicht ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr,
sondern auch ein Gott, der ferne ist?“
(Jeremia 23,23)
Lars Löwensen
online seit: 29.08.2024